StrahlenTelex [ Säuglingssterblichkeit nach Tschernobyl ]

 









 

 

Bericht Nr. 24 des Otto Hug Strahleninstitutes, ISSN 0941-0791

Gesellschaft für Strahlenschutz e.V. (GSS) Berlin, Bremen 2003, 80 Seiten, EURO 10,oo.

Alfred Körblein:

Säuglingssterblichkeit nach Tschernobyl

Hagen Scherb und Eveline Weigelt:

Zunahme der Perinatalsterblichkeit, Totgeburten und Fehlbildungen in Deutschland, Europa und in hochbelasteten deutschen und europäischen Regionen nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986

Vorwort

Abstract / Zusammenfassung

Autorinnen und Autoren

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Vorwort – Von Sebastian Pflugbeil

In Vorbereitung auf den 17. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe erscheint dieser Otto-Hug-Bericht der Gesellschaft für Strahlenschutz mit zwei bemerkenswerten Arbeiten. Die Autoren befassen sich seit vielen Jahren mit statistischen Untersuchungen epidemiologischer Fragestellungen und haben viel dazu publiziert. In den vorliegenden beiden Beiträgen geht es um Fragestellungen, von denen einflußreiche deutsche Epidemiologen und Strahlenmediziner/-biologen/-physiker bisher die Meinung vertreten, dass es nicht sinnvoll ist, diese Themen zu bearbeiten, weil es gar nicht möglich sei, dabei etwas Vernünftiges herauszubekommen. Es geht um die Untersuchung von Veränderungen der Säuglingssterblichkeit, der Totgeburten und Fehlbildungen in Bayern, Deutschland und verschiedenen europäischen Regionen nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl im April 1986.

Das Establishment vertritt die Auffassung, dass die durch Tschernobyl bedingte Erhöhung der Strahlenbelastung außerhalb der engeren Tschernobylregion für die Bevölkerung so gering war, dass man Auswirkungen auf die Gesundheit ausschließen, mit Sicherheit aber nicht mit epidemiologischen Mitteln nachweisen könne. Es wird sogar behauptet, dass selbst in der Tschernobylregion (Belorußland, Ukraine, Westrußland) mit Ausnahme von Schilddrüsenkrebs bei Kindern keine Gesundheitsschäden nachgewiesen werden könnten, die auf die erhöhte Strahlenbelastung nach der Tschernobyl-Katastrophe zurückgehen.

Dr. Alfred Körblein (Umweltinstitut München) hatte bereits Ärger ausgelöst, als er respektlos die bekannten Untersuchungen des Mainzer Kinderkrebsregisters (Direktor: Prof. Dr. Jörg Michaelis) über Krebserkrankungen in der Umgebung deutscher kerntechnischer Anlagen genau gelesen und ganz anders bewertet hat als Michaelis und die damalige Bundesumweltministerin Angela Merkel. Die Beharrlichkeit von Körblein und die Schlüssigkeit seiner Argumente haben wesentlichen Anteil daran, dass in diesen Tagen eine erneute Analyse der Krebserkrankungen in der Umgebung deutscher Kernkraftwerke beginnt, bei der wichtige Hinweise von Körblein berücksichtigt werden.

Bezüglich der Tschernobylfolgen untersucht Körblein Daten zur Neugeborenensterblichkeit (Perinatalsterblichkeit), der Geburtenrate und der Fehlbildungen (nur in Bayern), die von amtlichen Stellen ermittelt wurden. Er hat nach Verbindungen zum Zeitverlauf der äußeren Strahlenbelastung und der Belastung über die Nahrungsmittel (Cäsium und Strontium) nach Tschernobyl gesucht. Körblein entwickelt mathematische Modelle, die die Zusammenhänge beschreiben. Er findet einen signifikanten Anstieg der Sterblichkeit von Neugeborenen in praktisch allen untersuchten Datensätzen für das Jahr 1987. In den höchstbelasteten Regionen um Tschernobyl gilt das auch noch für das Jahr 1988. Die Auswertung von Monatsdaten gestatten es Körblein, Überlegungen zur biologischen Plausibilität seiner Ergebnisse anzustellen. Bezüglich der bayerischen Fehlbildungen findet Körblein einen hochsignifikanten Zusammenhang mit der Cäsium-Bodenbelastung in den Bayerischen Landkreisen im November und Dezember 1987.

Dr. Hagen Scherb und Eveline Weigelt, beide aus dem GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in Neuherberg, untersuchen die Zunahme der Perinatalsterblichkeit, Totgeburten und Fehlbildungen in Deutschland, Europa und in hochbelasteten deutschen und europäischen Regionen nach Tschernobyl. Innerhalb der GSF sieht man diese Arbeiten nicht gerne. Prof. Dr. Albrecht M. Kellerer, Direktor des Instituts für Strahlenbiologie in der GSF, hat die Arbeiten von Scherb und Weigelt mehrfach scharf angegriffen. Er muß den beiden Autoren zwar ein korrektes statistisches Vorgehen bescheinigen, wirft ihnen aber vor, sie würden den gegenwärtigen Stand des strahlenbiologischen Wissens nicht berücksichtigen, aus dem man ableiten könne, dass es aussichtslos ist, mit epidemiologischen Methoden nach Wirkungen von Strahlendosen unterhalb von 1 Millisievert zu fahnden. Kellerer sieht die Zwickmühle, in der er sich befindet, einigermaßen klar: publiziert Scherb seine Ergebnisse als Mitarbeiter der GSF, so steht er damit in Widerspruch zu Veröffentlichungen höherrangiger Wissenschaftler der GSF. Verbietet man seine Publikationen, so würde das in der Öffentlichkeit durchaus als Indiz für die Richtigkeit seiner Überlegungen ausgelegt werden. Über einen längeren Zeitraum wurde Scherb in einer Weise unter Druck gesetzt, die mich an längst vergangene Zeiten erinnert. Auch mir wurde von meiner Institutsleitung in der Akademie der Wissenschaften der DDR vorgeworfen, dass ich unmöglich meine Arbeitsaufgaben in der medizinischen Forschung mit voller Kraft wahrnehmen könne, wenn ich mich gleichzeitig mit den Auswirkungen des Uranbergbaus in der DDR oder den Wirkungen von Atomwaffen befasse. Die Wissenschafts-, Partei- und Staatsfunktionäre saßen in der gleichen Klemme wie Kellerer.

Kellerer hatte sich schon recht früh bezüglich seiner Einschätzung der Tschernobylfolgen festgelegt: "Die erhöhten Erkrankungsraten werden von der Bevölkerung und vom Großteil der Ärzteschaft der Strahlenexposition zugerechnet. Eine kritische Beurteilung der Situation jedoch führt zu dem Schluß, daß es sich um Erhöhungen handelt, die durch drei verschiedene Ursachen zustande kommen: 1. Veränderte und eingeschränkte Lebens- und Ernährungsbedingungen, 2. Gravierende Angstzustände, 3. Häufigere und intensivere ärztliche Untersuchungen und vollständigere Berichte über Erkrankungen in den kontaminierten Gebieten" (Bericht an das Rote Kreuz, Januar 1990). Wer so die Situation in der Tschernobylregion beschreibt, (bevor er dazu auch nur eine einzige belastbare wissenschaftliche Untersuchung vorgenommen hatte), der muß natürlich die Suche nach Tschernobylfolgen in Deutschland oder Westeuropa für völlig abwegig halten.

Scherb und Weigelt haben sich gegen die Weisung, ihre Analysen der perinatalen Säuglingssterblichkeit und Fehlbildungen nach Tschernobyl einzustellen, zur Wehr gesetzt. So ist es möglich geworden, die vorliegende Arbeit tatsächlich zu veröffentlichen. Die beiden Autoren können mit einem anderen mathematisch-statistischen Ansatz als Dr. Körblein in zahlreichen Datensätzen zu Perinatalsterblichkeit und Totgeburten in Deutschland und Europa sowie in niedrig bzw. hoch belasteten Ländern und Regionen signifikante Trendänderungen in zeitlichem Zusammenhang mit der Tschernobyl-Katastrophe aufzeigen. Der zweite Schwerpunkt der Arbeit von Scherb und Weigelt beinhaltet die Analyse von Fehlbildungsdaten, die in Bayern im Auftrag des dortigen Umweltministeriums erhoben wurden. Sie lassen die Abschätzung zu, dass es in Bayern nach Tschernobyl zu 1000 bis 3000 zusätzlichen Fehlbildungen zwischen Oktober 1986 und Dezember 1991 gekommen sein könnte. Die Analyse der Totgeburten führt zu ebenso erschreckenden Ergebnissen: In Bayern, den neuen Bundesländern, West-Berlin, Dänemark, Island, Lettland, Norwegen, Polen, Schweden und Ungarn gibt es nach ihrer Analyse einen Totgeburtenüberschuß von etwa 3200 Fällen zwischen 1986 und 1992. Die Autoren weisen zu Recht darauf hin, dass erstaunlicherweise in den einzelnen Ländern darüber nicht schon Ende der 80er Jahre berichtet wurde, als dieser Effekt schon deutlich zu erkennen war, zumal die zugrundeliegenden Daten frei zugänglich waren.

Das Gewicht dieser Analysen ist hoch, weil die Trendänderungen in so vielen verschiedenen Ländern, in denen ganz unterschiedliche Institutionen die relevanten Daten gesammelt haben, zum selben Zeitpunkt und im selben Sinne erfolgen und sogar die Dosis-Wirkungs-Beziehungen angegeben werden können. Die Autoren befassen sich ausführlich mit der Frage der strahlenbiologischen Plausibilität ihrer Ergebnisse.

Die Arbeiten von Körblein, Scherb und Weigelt reiben sich an den Lehrbüchern, den Publikationen der internationalen Kommissionen und des Establishments in Deutschland. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht vom Lehrbuch aus die Realität sortieren, sondern zunächst die Phänomene gesucht und wahrgenommen haben. Auch wenn das so manchen Wissenschaftsvertretern nicht gefällt, ist der offensichtlich bestehende kaum versöhnliche Streit um die Wahrheit ein für die Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin besonders interessantes und durchaus nicht seltenes Ereignis. Wenn Lehrbuchweisheiten nicht mehr ausreichen, die Beobachtungen in unserer Umwelt zu erklären, wird es spannend – an dieser Stelle entstanden vielfach gänzlich neue Erkenntnisstufen, mit deren Hilfe die zunächst mit der reinen Lehre unvereinbaren Beobachtungen sich ganz zwanglos erklären lassen. Die Weigerung, bestimmte Fragen zu stellen, konkrete Beobachtungen wahrzunehmen und das gleichzeitige Bemühen, Wissenschaftler unter Druck zu setzen, die sich mit ebendiesen Fragen und Beobachtungen befassen, wird aus der Sicht der Wissenschaftsgeschichte als eine Kuriosität in die Annalen eingehen. Wir können von Glück sagen, dass wir nicht mehr in Galileis Zeit leben, also nicht ernsthaft über Scheiterhaufen nachdenken müssen, wenn wir Wissenschaft betreiben wollen. In einer Zeit, in der die wissenschaftliche Karriere davon abhängt, wie ernst man Lehrstuhlinhaber, Institutsdirektoren und starke Wirtschaftsinteressen bei der Wahl seiner Forschungsschwerpunkte und der Darstellung der Wahrheit nimmt, leben wir aber allemal.

Ich schätze die hier vorgelegten Arbeiten vor allem aus folgendem Grund: Die Ignoranz des Establishments übersieht und unterdrückt nicht nur irgendwelche Zahlen, sie übersieht eiskalt menschliches Leid großen Ausmaßes und verhindert mit vermeintlich wissenschaftlichem Getue, dass den betroffenen Menschen wirksam Hilfe zuteil wird. Wem soll man denn helfen, wenn es gar keine Schäden (mit Ausnahme von Schilddrüsenkrebs bei Kindern) gibt, sollen die guten Leute doch spazierengehen und Gemüse esse und endlich mit ihrer Hysterie aufhören. Die vorliegenden Analysen deuten in aller Vorsicht an, dass wir es allein bei den in diesem Zusammenhang behandelten Problemen in Europa – also einigermaßen weit weg von Tschernobyl – mit einer vierstelligen Zahl von Opfern zu tun haben. Ich hoffe sehr, dass die dogmatischen Vorstellungen von Schwellenwerten, von den nicht vorhandenen oder zumindest niemals nachweisbaren Wirkungen geringer Strahlendosen künftig mehr an der Wirklichkeit gemessen werden als das bisher der Fall war – die Arbeiten von Körblein, Scherb und Weigelt sind wichtige Schritte auf diesem Weg.

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Abstracts / Zusammenfassungen

Säuglingssterblichkeit nach Tschernobyl

Alfred Körblein

Summary

In 1987, the year following the Chernobyl accident, perinatal mortality was significantly increased in Germany as well as in Poland. The numbers of excess perinatal deaths were 317 and 320, respectively.

Monthly data from Germany, Poland and the region of Zhitomir, Ukraine, exhibit a significant association between perinatal mortality and the delayed caesium concentration in pregnant women with a time-lag of seven months.

In addition to an increase in 1987, perinatal mortality in the most contaminated areas of Ukraine and Belarus show a second rise beginning in 1989 which can be related to the action of strontium. The cumulative effect from strontium outweighs the effect of caesium in 1987 by more than a factor of 10.

Monthly data of malformation rates in newborn were only available for the State of Bavaria, Germany. No increase is observed in 1987 in the Bavarian average. But at the end of 1987, seven month after the highest caesium concentration in pregnant women in April and May 1987, a highly significant dependency of malformation rates on caesium soil contamination is found.

In southern Bavaria, which experienced a much higher fallout than northern Bavaria and the rest of Germany, the birth rate was significantly decreased in February 1987. This drop in the number of live births could be explained by an increase of spontaneous abortions 9 months earlier, in May 1986.

According to conventional radiobiological knowledge, no detrimental effects of ionising radiation on the foetus are expected below a threshold dose of 50 mSv. Since the extra doses to the foetus from ingested caesium were estimated well below 1 mSv the year following Chernobyl, the existence of a threshold dose for radiation damage during foetal development must be questioned.

Zusammenfassung

Im Jahr 1987, dem Jahr nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl, war die Sterblichkeit von Neugeborenen (Perinatalsterblichkeit) sowohl in Deutschland wie in Polen signifikant erhöht. In diesem Jahr starben in Deutschland 317 und in Polen 320 Neugeborene mehr als statistisch erwartet.

Für Deutschland, Polen und die Ukraine standen auch Monatsdaten zur Verfügung. In allen Datensätzen zeigt sich ein Zusammenhang der Sterblichkeit von Neugeborenen mit der um sieben Monate verzögerten Belastung der Schwangeren mit radioaktivem Cäsium, das mit der Nahrung aufgenommen wurde.

Neben einer Erhöhung im Jahr 1987 weisen Daten aus den weißrussischen und ukrainischen Gebieten nahe Tschernobyl außerdem einen erneuten Anstieg der Perinatalsterblichkeit ab dem Jahr 1989 auf, der sich mit der Wirkung von radioaktivem Strontium erklären lässt. Der kumulierte Effekt von Strontium auf die Perinatalsterblichkeit überwiegt dabei den Effekt von Cäsium im Jahr 1987 um mehr als den Faktor 10.

Daten der Fehlbildungsraten aus Bayern zeigten im Jahr 1987 keine Auffälligkeit im bayerischen Durchschnitt. Allerdings findet sich am Ende des Jahres 1987, sieben Monate nach der höchsten Cäsiumbelastung der Schwangeren im April und Mai 1987, eine hochsignifikante Abhängigkeit der Fehlbildungsrate von der Cäsium-Bodenbelastung in den bayerischen Landkreisen.

Die Geburtenrate war in Südbayern im Februar 1987 - und nur in diesem Monat - signifikant erniedrigt. Südbayern war die vom Tschernobyl-Fallout am stärksten betroffene Gegend Deutschlands. Der Geburtenrückgang wäre mit einer erhöhten Anzahl von spontanen Aborten neun Monate vorher, im Mai 1986, zu erklären.

Nach bisheriger strahlenbiologischer Lehrmeinung dürfte es Strahlenschäden während der Embryonalentwicklung unterhalb einer Schwellendosis von 50 mSv überhaupt nicht geben. Aber selbst in den höchstbelasteten Gegenden Deutschlands betrug die zusätzliche Dosis im ersten Folgejahr von Tschernobyl weniger als 1 mSv. Die Existenz einer Schwellendosis für Strahlenschäden während der Embryonalentwicklung muss deshalb in Frage gestellt werden.

Zunahme der Perinatalsterblichkeit, Totgeburten und Fehlbildungen in Deutschland, Europa und in hochbelasteten deutschen und europäischen Regionen nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986

Hagen Scherb und Eveline Weigelt

Abstract

There is a growing awareness of many lasting detrimental health consequences of the Chernobyl nuclear reactor eruption in large parts of central, eastern and northern Europe. A flexible synoptic spatial-temporal method based on logistic regression is suggested for the analysis of official national as well as district by district reproductive failure data. The main idea is to model a spatial-temporal annual or monthly data set by adjusting for country or region specific trend functions and either to test for local or global temporal jumps or broken sticks (change-points) associated with the years 1986 or 1987 or, alternatively, to test for a spatial effect of regionally stratified exposure or dosimetry data on reproductive outcome. In numerous official data sets of central, eastern, and northern European countries or regions absolute or relative increases of stillbirth proportions after 1986 were observed. Those purely temporal change-points are supported by results of ecological exposure-response analyses involving the spatial dimension represented by region specific exposure data. Significant ecological relative risks in the range of 1.005 to 1.020 per 1kBq/m2 Cs-137 for stillbirth in Germany and pertinent congenital malformations in Bavaria are found. A similar result is obtained from Finish stillbirth and radioactive exposure data. The relative risk coefficient of 1.01 per 1kBq/m2 Cs-137 translates to a preliminary relative risk coefficient of 1.60 per 1mSv/a. As a byproduct of our analyses, an effect of the background radiation on reproductive health is identified, which is consistent with the effect of the Chernobyl fallout. The trend functions of the sex odds for stillbirth as well as for live birth are also disturbed in 1986 or 1987. The disclosed spatial-temporal effects in Germany and Europe are suggestive of and consistent with a detrimental causal effect of the radioactivity released by the Chernobyl accident on reproductive outcome in large parts of Europe.

Zusammenfassung

Zeitliche und räumliche Trends der Perinatalsterblichkeit und der Totgeburtenrate in Deutschland, Europa sowie in durch den Tschernobylunfall niedrig und hoch belasteten einzelnen Ländern bzw. Regionen wurden untersucht. In zahlreichen Datensätzen bzw. Zusammenfassungen von Daten, vornehmlich aus nord- bzw. osteuropäischen Ländern, zeigen sich positive und signifikante Trendänderungen im zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall von Tschernobyl. Es ergibt sich das erstaunlich konsistente Bild von signifikanten, sprunghaften, lang anhaltenden relativen Anstiegen der Totgeburtlichkeit nach 1986 in der Größenordnung von ca. 5% (z.B. Polen), ca. 20% (z.B. Dänemark, Finnland), bis ca. 30% (z.B. Ungarn). Schwächer bzw. höher belastete Teilregionen weisen dabei schwächere bzw. stärkere Effekte auf. Das kann man an den Beispielen Bayern, DDR und Finnland exemplarisch zeigen. Bayern und DDR bzw. Finnland sind z. Z. die einzigen uns vorliegenden Fallbeispiele mit nach Landkreisen bzw. Expositionsquintilen gegliederten Tot/Lebendgeburten und Expositionsstatistiken. Mit diesen Statistiken können, über den zeitlichen Zusammenhang hinaus, räumlich-zeitliche ökologische Expositions-Wirkungs-Beziehungen zwischen Flächenkontamination und Totgeburtenrate dargestellt werden. Als Nebenprodukt unserer Untersuchungen können mit den vorliegenden Daten und unserer Methodik ökologische Risikokoeffizienten für die Hintergrundstrahlung berechnet werden, die teilweise gut mit den Risikokoeffizienten für die Flächenkontamination nach Tschernobyl übereinstimmen.

Eine naheliegende unspezifische Erklärung für die gefundenen Effekte sind Keimzellmutationen oder die Zerstörung genetischer Information im Embryonalstadium. Mögliche Mechanismen, auf die in der humangenetischen Literatur schon vor geraumer Zeit hingewiesen wurde (Vogel 1961), sind bis heute weder durch Strahlenbiologie, Epidemiologie, Genetik noch durch andere einschlägige wissenschaftliche Disziplinen näher erforscht und quantifiziert worden (vgl. Vogel 2000). Ein in der Literatur bereits Ende der 50er Jahre beschriebener geschlechtsspezifischer Effekt der radioaktiven Belastung des Menschen ist in unseren Daten deutlich erkennbar, und zwar sowohl mittels globaler Totgeburtenstatistiken auf Europaebene als auch mittels lokaler Totgeburtenstatistiken auf Landkreisebene in Bayern+DDR+West-Berlin: Das männliche Geschlecht ist von der zusätzlichen Totgeburtlichkeit nach Tschernobyl stärker betroffen als das weibliche. Bei den Lebendgeburten kommt es dagegen ab 1986/1987 zu einer sprunghaften Verschiebung des Geschlechtsverhältnisses zuungunsten des weiblichen Geschlechts. Die asymmetrische Verteilung der Geschlechtschromosomen auf Mann und Frau, die asymmetrische Funktion der Geschlechtschromosomen hinsichtlich dominanter und rezessiver Letalfaktoren bei der Fortpflanzung sowie der beträchtliche Größenunterschied zwischen X- und Y-Chromosom wurden von Vogel (1961) als Erklärungsversuch angeboten.

Im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen (BStMLU) wurden die angeborenen Fehlbildungen in Bayern von 1984 bis 1991 durch INFRATEST erhoben und vom Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) – ansatzweise im Hinblick auf Tschernobyl – mit negativen Befunden ausgewertet. Diese Fehlbildungsdaten sollen noch einmal gründlich, in gegenseitiger Abstimmung zwischen BStMLU, BfS, TU-München, LMU-München, Umweltinstitut München e.V. und GSF analysiert werden. Drei gemeinsame Sitzungen haben stattgefunden. Einige Probleme und erste eigene Resultate dieser Analysen werden hier dargestellt. Die zusätzlichen Risiken pro 1 kBq/m2 Cs-137 Flächenkontamination für eine Reihe von Fehlbildungen bewegen sich in ähnlicher Größenordnung wie die Risiken für Totgeburt im Bereich von 0.5%-2.0%/(1kBq/m2), wobei die Risiken für die Fehlbildungsdiagnosen im Vergleich zu Totgeburt tendenziell größer sind. Anhand der bekannten Konversionsfaktoren übersetzt sich ein zusätzliches Risiko von 1%/(1kBq/m2) rein rechnerisch in ein vorläufiges relatives Risiko von 1.6/(1mSv/a), wenn man nur die durch die beiden Cs-Isotope Cs-137 und Cs-134 vermittelte externe Dosis ohne Abschirmung berücksichtigt. Auf die Problematik der Risikoangabe auf Basis der Dosis (mSv/a) im Gegensatz zur Basis der Flächenkontamination (kBq/m2 Cs-137) wird gesondert eingegangen.

Unter den insgesamt 29961 uns vorliegenden Fällen mit Fehlbildungen des Bayerischen Fehlbildungsdatensatzes (1984-1991) haben wir bisher 8689 Fälle genauer analysiert: Zwei häufige Herzfehlbildungen (n=2797), Deformitäten (n=3686), nicht identifizierte Fehlbildungskombinationen (n=1817) und Mikrozephalus (n=389). Eine Bilanzierung der Exzess-Fälle in diesen Diagnosegruppen anhand der signifikanten diagnosespezifischen relativen Risiken pro kBq/m2 Cs-137 nach Tschernobyl ergibt knapp 1000 zusätzliche Fehlbildungen in Bayern von 10/1986–12/1991. Eine vorsichtige Hochrechnung dieses Resultates auf alle Fehlbildungen macht deutlich, dass es nach Tschernobyl in Bayern zu 1000-3000 zusätzlichen Fehlbildungen im untersuchten und exponierten Zeitraum gekommen sein könnte. Vielleicht ist diese Zahl aber noch größer, u.a. weil im Bayerischen Fehlbildungsdatensatz Bagatell- und Verdachtsfehlbildungen nicht enthalten sind und die Erfassungsquote unter 100% liegen dürfte.

Unsere Beobachtungen und Ergebnisse sollten Anlass sein, die bisherigen Grundannahmen in der Strahlenbiologie und im Strahlenschutz im Hinblick auf Reproduktionsstörungen zu überprüfen. Die dort verwendeten Schwellenwertkonzepte, mit offenbar relativ hoch angesetzten Schwellen, sind möglicherweise Artefakte negativer bzw. negativ interpretierter Untersuchungen mit zu geringer statistischer Aussagekraft. Es stellt sich im übrigen die Frage, ob es adäquat ist, Totgeburt und Fehlbildung als sogenannte deterministische bzw. somatische Effekte aufzufassen, wie dies einige Autoren und Institutionen tun (BEIR V 1990, Jacobi 1990, Kellerer 1998, Strahlenschutzkommission 1989, Streffer 1995, UNSCEAR 1993). Die Unterscheidung ‚deterministisch - stochastisch’ könnte ein semantischer ‚Kunstgriff’ sein, der die Begründung von Schwellentheorien für Reproduktionsstörungen erleichtern soll.

Die folgende Stoffauswahl fasst nur die wichtigsten Daten und Methoden zusammen, es konnten hier bei weitem nicht alle beobachteten Effekte und methodischen Aspekte dargestellt werden. Insbesondere bei den Fehlbildungen haben wir erst ein Drittel des Datenmaterials auf grobe Effekte hin untersucht.

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Autorinnen und Autoren:

Alfred Körblein, Dr. rer. nat., Dipl. Phys.

Umweltinstitut München e.V., Schwere-Reiter-Str. 35/1b, D-80797 München

Hagen Scherb, Dr. rer. nat., Dipl. Math.

GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit GmbH, Ingolstädter Landstr. 1, D-85764 Neuherberg

Eveline Weigelt, Dipl. Sc. Pol.

GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit GmbH, Ingolstädter Landstr. 1, D-85764 Neuherberg

Sebastian Pflugbeil, Dr. rer. nat., Dipl. Phys.

Gesellschaft für Strahlenschutz (GSS) e.V., Gormannstr. 17, D-10119 Berlin

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ISSN 09314288

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